Die Individualpsychologie
Beseelt davon, den Menschen in seiner Tiefe zu verstehen und gleichzeitig eine, für alle Menschen verständliche und im Alltag anwendbare, Psychologierichtung zu schaffen, entwickelte und begründete Alfred Adler (Wien,1870-1939) vor rund 100 Jahren eine der drei klassischen Schulen der Tiefenpsychologie. Zentral für alle Tiefenpsychologien ist die Annahme, dass in den Tiefenschichten der Psyche, also „unter der Oberfläche“ unseres Bewusstseins, weitere, uns nicht bewusste, Prozesse ablaufen. Adler nennt sie Individualpsychologie (individuum: lateinisch, das Unteilbare).
Neben und in Abgrenzung von Sigmund Freuds Psycholanalyse, und dessen Teilung des Menschen in verschiedene Systeme (Überich, Ich, Es), wollte sich Adler auch mit dieser Namensgebung von Freud abgrenzen:
Adler erkannte und definierte damit bereits vor einem Jahrhundert, was wissenschaftliche Studien heute belegen: Körper, Geist und Seele sind als Einheit zu verstehen, die wechselseitig aufeinander Einfluss nehmen. Somit liefert die Individualpsychologie schon sehr früh ihren Beitrag zu heutigen Konzepten der Ganzheitlichkeit.
Innerhalb der Individualpsychologie spielen vor allem Ermutigung, Wertschätzung und Wachsen (lassen), sowie die Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Gleichwertigkeit und das Gemeinschaftsgefühl die Hauptrollen.
Die Fragen „Wozu verhält sich der Mensch/verhalte ich mich/bin ich so?“ oder „Welchen Sinn/welchen Zweck/welches Ziel möchte ich durch mein Verhalten erreichen?“ bekommt einen höheren Rang eingeräumt, als die Frage nach dem „Warum?“.
Damit ist die Zielgerichtetheit – die Ausrichtung auf die Zukunft- Hauptbestandteil jeglicher individualpsychologischer Arbeit. Der Rückblick in die Vergangenheit, bis hin zu Kindheitserinnerungen – also das „Warum?“, dient uns dabei zum Verstehen der aktuellen Handlungsweisen, Denkmustern und Gefühle. Von dort aus schauen wir Individualpsychologen nach vorn: auf für den einzelnen und die Gemeinschaft erstrebenswerte Ziele.
Am Ende bedeutet Individualpsychologie immer einen Zuwachs an Selbsterkenntnis, Menschenkenntnis, einen Zuwachs an neuen, nach vorne gerichteten, Handlungsideen und –möglichkeiten und ein Mehr an Sinnhaftigkeit und Selbstgestaltung im Leben.
Individualpsychologie setzt nicht erst beim Problem an. Sie ist interessiert daran, Menschen, so früh wie möglich, in einer Art gedeihen zu lassen, dass sie den Herausforderungen des Alltags in allen Lebensbereichen gewachsen sind und bleiben. Mannigfache Untersuchungen belegen: Wer ermutigt wird/ist blüht auf und setzt seine Potentiale, seine Kraft und Lebensfreude für sich und andere mutig ein.
Die Individualpsychologie versteht sich als ´Gebrauchspsychologie´, die das ´Selbstsein in Bezogenheit´ fördern möchte. Ermutigung und die Ausrichtung auf das ´Gute´, das ´Gelingende´, die Fähigkeiten und Potentiale einer Person, sowie der Mut zur Unvollkommenheit sind wichtige Träger für eine hohe Lebenszufriedenheit des Einzelnen und damit für seinen individuell-konstruktiven Beitrag in und für die Gemeinschaft.